Schatten

An diesem heißen und schwülen Tag, 36 °C, und vielleicht noch etwas mehr, waren noch viele Fragen offen für Boris Kutscher. Er stand im Schatten einer Hauseinfahrt und sah, von anderen Passanten unbemerkt, auf den Hauptplatz des kleinen Städtchens im Waldviertel. Unbemerkt schon aus dem Grund, dass es auffallen müsste, wenn man bei diesen Temperaturen, mit einem Sakko bekleidet, herumsteht. Normalerweise würde jeder an seinem Geisteszustand zweifeln.
Nicht weit entfernt tranken zwei Tauben vom Wasser aus dem Brunnen, welches links und rechts, aus zwei geschwungenen Rohren, von der aus Schmiedeeisen gefertigten Brunnensäule floss. Rund um diesen Brunnen waren Sitzbänke aufgestellt. Jedoch, da diese Bänke alle in der prallen Sonne standen, nahm heute niemand diese Sitzplätze in Anspruch.
Boris wartete auf seinen Informanten, welcher schon mehr als 20 Minuten überfällig war. Nun sollte Licht in die dunklen Machenschaften um die verschwundenen Turbinenteile kommen. Heute sollte er erfahren wohin die Lieferung der vier Rolls Royce - Originaltriebwerksteile  umgeleitet worden war. Vom Werksspionagedienst Rolls-Royce Power Systems hatte er ein paar Details erfahren, und wenn man eins und eins zusammenzählen konnte war es dann gar nicht so schwer. Allerdings kosteten diese Informationen auch etwas, einerseits eine Menge Schweißtropfen und andererseits fünfzigtausend Euro, welche in der linken Brusttasche seines Sakkos steckten und die Seite des Kleidungsstücks etwas ausbeulten. Aber was sind schon fünfzigtausend Eier gegen vier Düsentriebwerke für einen Airbus 380.
Nun waren schon mehr als dreißig Minuten vergangen und der Versicherungsagent wartete noch immer auf seinen Informanten, der offensichtlich doch keine Lust mehr hatte fünfzigtausend Euro zu verdienen. Boris sah sich um und trat dabei ein wenig aus dem Schatten der Hauseinfahrt. Da sah er einen Mann mittleren Alters auf sich zukommen, dessen gelblich-blasses Gesicht, zu einem großen Teil, von einer überdimensionierten schwarzen Sonnenbrille verdeckt wurde.
„Boris Kutscher?“, fragte der Fremde mit ausländischem Akzent. Boris nickte und meinte: „Gehen wir zurück in den Schatten, es ist verdammt heiß hier!“, und setzte an wieder in die Hauseinfahrt zurückzugehen.
Der Fremde reagierte darauf nicht und fragte nur: „Sie haben das Geld?“
Boris hob die rechte Hand, um mit dem Zeigefinger auf die linke Brusttasche zu zeigen. Mit der rechten wollte er ein Taschentuch aus der Hosentasche nehmen und sich den Schweiß von der Stirne wischen. Doch dazu kam er nicht. PLOPP, und noch ein zweites Mal PLOPP, kam es aus der schallgedämpften Glock 38, welche der Fremde plötzlich in der Hand hielt.
Zwei Hammerschlägen gleich trafen die beiden Geschoße Boris in der Herzgegend, und warfen ihn in die Hauseinfahrt. Der blasse Fremde stürzte auf ihn zu, um das Geld aus der linken Brusttasche zu nehmen. Dabei beugte er sich über ihn und versuchte in die Tasche zu greifen. Plötzlich hielt er in der Bewegung inne. Ein harter Metallkörper wurde ihm auf die Brust gerammt und Boris stöhnte: „Noch eine Bewegung und du bist ein toter Mann! Waffe auf den Boden und drei Schritte zurück!“
Stöhnend erhob er sich langsam - und hielt mit seiner Beretta, welche tatsächlich die linke Seite seines Sakkos ausgebeult hatte, den Fremden in Schach. Zum Glück kamen bereits die Polizisten aus dem hinter der Einfahrt liegenden Gebäude und von der gegenüberliegenden Straßenseite herbei, um den Fremden festzunehmen.
Boris zog sein Sakko aus und wollte die, unter seinem Hemd befindliche, kugelsichere Weste ablegen. Beide Projektile waren noch vorhanden und hätten, ohne die Schutzweste, genau das Herz des Versicherungsagenten getroffen. Kommissar Schwaiger, einer seiner Freunde, meinte nach der Festnahme: „Ich könnte mir vorstellen, dass du heute verdammtes Glück gehabt hast! Du brauchst Schatten, ein Handtuch, um dich trocken zu legen, und eine große Menge kühles Bier, um deinen Flüssigkeitshaushalt wieder ins Gleichgewicht zu bringen! Und wenn du das geschafft hast, nehmen wir uns den Fremden vor!“