Jahr: 2002
Autor/in: Doris Gugubauer
Titel: Eine Vernissage der Erinnerung

Ich hob mein Gesicht gegen die ersten warmen Sonnenstrahlen. Der erste Hauch Frühling umwehte mich. Ganz leise drang Lachen und Kindergejauchze an mein Ohr. Nein, ich wollte nicht in die Realität auftauchen. Aber es war schon passiert. Erschrocken öffnete ich die Augen aus Angst, das Himmelblau nicht mehr zu sehen. Aber es war noch da, genau wie die grüne Wiese mit den Primeln und die junge hübsche Frau, die vor einer Staffelei saß und eifrig den Pinsel über das Blatt streicheln ließ. Die Handbewegung der Malerin hatte mich an jemanden erinnert. Nur ... nein, ich wollte nicht wieder in die Vergangenheit abtauchen, aber es war zu spät.

„Ich sitze in einem sonnendurchfluteten Atelier und in der Mitte steht Leon. Sein nackter Oberkörper ist voller bunter Kleckse, und ein schelmischer Ausdruck liegt auf seinem Gesicht, als er liebevoll auf das Papier vor sich sieht. Unsere Blicke treffen einander, und ich versinke in seine schwarzen Augen. Er kommt langsam auf mich zu, das Sonnenlicht scheint von hinten auf ihn und umgibt seinen Kopf wie einen Heiligenschein. Mein Gesicht verklärt sich und das Unvermeidliche geschieht. Es geschieht immer, wenn Leon mit einem seiner Bilder von mir fertig ist.“

Es war damals eine unbeschwerte und stürmische Zeit in Paris. Ich, die aus gutem deutschem Hause kommende Diplomatentochter, lebte wie eine Bettlerin mit einem Maler zusammen. Nicht einmal die Tatsache, dass Leon, es war natürlich sein Künstlername, auch Deutscher war, konnten meine Eltern davon abbringen, mir zu verbieten, mit ihm nach Paris zu kommen. Die Auseinandersetzung mit meinen Eltern war verletzend, aber ich war glücklich, da ich bei dem Mann war, den ich liebte. Natürlich war sein Atelier am Montmartre. Wenn Leon ein Bild verkaufte, was sehr selten vorkam, kauften wir gleich Leckerbissen ein und setzten uns zu den anderen Künstlern in die Wiese. Ich arbeitete als Zimmermädchen in einem Freudenhaus, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Doch möchte ich diese Zeit nicht missen. Die Besitzerin war zu uns allen wie eine Mutter. Wir waren eine Familie in diesem Haus. Diese Zeit war nur so von Liebe, Freude, Glück und Freundschaft durchzogen, dass ich plötzlich traurig wurde, weil ich diese Mischung in der heutigen Zeit vermisse. Aber damals war ich jung und sehr glücklich, denn ich würde bald Mutter sein. Es war alles perfekt.

Peng! Eine zugeknallte Autotür und ein hysterisches Geplärr rissen mich von Paris fort. Ich sah zu dem Paar hinüber, das aus dem Auto ausgestiegen war. Sie stritten sich sehr heftig, und die Frau beendete dieses Streitgespräch damit, indem sie dem Mann ihr gegenüber eine Ohrfeige gab. Aber was für eine! Fünf weiße Fingerabdrücke waren auf der roten Wange des Geohrfeigten zurückgeblieben. Traurig schaute ich der Frau nach, als sie schnellen Schrittes von dem Mann wegging. Eine Erinnerung von einer anderen rotglühenden Wange stieg in mir hoch.

„Ich klammere mich an Leon und er legt beschützend seinen Arm um mich. Männer in schwarzen Ledermänteln und hohen Stiefeln versuchen, uns zu trennen. Ich bin mitten in einem Handgemenge, und um mich herum herrscht das reinste Chaos. Plötzlich höre ich ein Klatschen und sehe in Leons Gesicht. Seine Wange glüht rot, und die Männer reißen uns brutal auseinander. Ich strecke meine Hände nach Leon aus, doch er wird fortgetragen. Weg von mir!“

Wir waren nicht mehr in Paris, sondern in Deutschland. Auf das Drängen meiner Mutter, sich zu versöhnen, fuhren wir nach Hause. Dort angekommen, verhaftete uns die SS. Sie beschuldigte Leon, ein Jude zu sein. Damals verstand ich kein Wort von dem, was mir diese Leute sagten. Ich versuchte, einen Zusammenhang zu finden. Die Frage, warum Juden nicht leben durften, drängte sich jede Nacht, die ich in der Zelle verbrachte, in mir auf.

Ein Freund meiner Familie sagte der SS, dass das Kind, welches ich erwartete, von ihm sei. Später erfuhr ich, dass mein Vater herausgefunden hatte, dass Leon´s Mutter Jüdin war, und der SS den Tipp gab, wann Leon in Deutschland war, damit er verhaftet wurde. Anton, so hieß der Freund, der mich Schwangere bei sich aufnahm, war sehr gut zu mir. Ich brauchte keinen Handstrich machen. Damals dachte ich, es wäre das Beste, ihn zu heiraten, damit mein Kind einen Vater hätte. Ich sprach ihn oft darauf an, er sagte immer, ich solle zuerst die Geburt hinter mich bringen und dann wird geheiratet. Ich bekam einen Jungen inmitten der Kriegswirren. Überglücklich und stolz wartete ich, von Anton geheiratet zu werden. Er ließ sich Zeit. Eines Tages ging ich in das Kinderzimmer und mein Herz blieb stehen. Mein Kind war weg! Barfuß und mit wehendem Nachthemd rannte ich schluchzend in Anton´s Büro und beschuldigte ihn, mich nur hingehalten zu haben, dass er mich eh nie heiraten wollte, und er solle mir meinen Sohn wiedergeben. Kühl sagte er mir, dass das nicht ginge, er wäre bei einem Ehepaar, die haben ihn adoptiert, und für mich wäre es sowieso besser, wenn ich nicht belastet sei mit einem Baby. Kreidebleich sah ich in seine Augen und verstand die Welt nicht mehr.

Enttäuscht ging ich von ihm weg. Ich dachte, er wäre ein Freund, doch ich hatte mich geirrt! Er machte dies alles auf Anordnung meines Vaters. Von da an wusste ich, dass ich nie mehr die Hand der Versöhnung nach meinem Vater ausstrecken würde. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Gott sei Dank hatte ich mit der Gestapo und der NS keine Probleme mehr. Heute frage ich mich, welche schützende Hand sich damals über mich gelegt hatte. Ich entsprach dem Bild der Arierin, blond und blauäugig, und keiner wusste, dass ich einen Sohn jüdischer Abstammung habe. Wo sollte ich wohne? Was sollte ich mit meiner Zeit machen? Ständig dachte ich an mein Baby, und dass ich es nicht in meinen Händen halten konnte. Damals wollte ich mich einfach nur beschäftigen, um nicht dauernd zu weinen. Ich ging zur Schreibstube und meldete mich als Lazarettgehilfin, und sie nahmen mich dankbar auf. Ich hatte eine Unterkunft und eine Arbeit, und vielleicht, so dachte ich damals, würde ich bei meiner Arbeit im Lazarett sterben. Obwohl mir Schlimmes von der SS widerfahren war und ich immer noch nicht verstand, was Juden so gefährlich machte und warum man sie verfolgte, arbeitete ich in diesem Regime als kleines Rädchen mit. Damals sagte ich mir, es geht mich nichts an, und verschloss meine Augen vor der Ungerechtigkeit.

Das erste Lazarett, in dem ich war, war harmlos. Bis auf eine Amputation, bei der ich nicht zugegen war, passierte fast nichts. Eigentlich pflegten wir nur leichte Fälle. Ich blieb dort für ein Jahr, eignete mir Wissen an, legte eine Krankenschwesterprüfung ab und kam in ein anderes Lazarett. Wir bekamen dort die Verwundeten, die von den Sanis im Feldlazarett notdürftig verbunden wurden. Damals glaubte ich, es gibt nichts Schlimmeres mehr. Wir schliefen nur zirka drei bis vier Stunden und hatten kaum Medikamente. Wir amputierten ohne Morphium. Mir zerreißt es noch heute das Herz, wenn ich in der Erinnerung die Schreie höre. Soldaten, junge Männer, ja sogar Knaben starben. Einfach so.

Bumm! Ich zuckte zusammen. Der Mann neben mir auf der Bank hatte sein Buch so heftig zugeschlagen, dass ich erschrak. Mit einem komischen Seitenblick auf mich ging er davon. Ich sah auf meine verkrampften Hände in meinem Schoß. Wahrscheinlich dachte er sich, so eine komische Alte. Aber wer konnte schon etwas gegen die Erinnerung tun?

Plötzlich hörte ich ein Krachen, Splittern und Knirschen. Ich drehte mein Gesicht in die Richtung, aus der die Geräusche kamen, und verschwommen sah ich, dass zwei Autos zusammengefahren waren, und tauchte gleich wieder in die Vergangenheit ab.

„Holzsplitter regnen auf mich herab. Entgeistert sehe ich in das Gesicht meiner Kollegin und denke: ‚Das gibt es doch nicht! Wir werden beschossen! Wir sind doch so weit vom Kriegsgeschehen entfernt. Wie können die sich erlauben, ein Lazarett zu beschießen?!‘ Meine Kollegin nimmt mich am Arm und wir rennen einen Flur entlang. Wie in Trance nehme ich wahr, dass Chaos und Geschrei um uns herrscht. Plötzlich schließt sich eine Hand um meinen Knöchel, und durch den festen Griff behindert, stürze ich. Ich sehe auf und schaue in das Gesicht des hohen Offiziers, dem ich noch vor kurzem den Verband gewechselt habe. Sein Mund formt das Wort ‚Hilfe‘, und ohne nachzudenken helfe ich ihm hoch und zerre ihn in Sicherheit.“

Damals glaubte ich, jetzt kommt er, der Gevatter Tod. Viele meiner Kollegen und auch Verletzte starben bei diesem Angriff. Ich und der Offizier hatten Glück, und durch meine heldenhafte Tat, trotzdem ich verletzt war, bekam ich eine andere Stelle. Dort würde es ruhiger sein, sagte man mir, und ich würde keine Feindberührung mehr haben. Doch ich kam als Krankenschwester in ein KZ. Nach dem ersten Tag hatte ich gewusst, es gibt eine Hölle, und ich war mitten drin! Dort lernte ich, das Regime zu hassen, rebellierte innerlich und wusste doch, dass ich nichts sagen durfte, sonst hätte ich einfach eine Kugel in den Kopf bekommen. Es keimte in mir der Wunsch, etwas gegen diese Ohnmacht zu tun, wusste aber nicht so recht, wie ich das machen sollte. Eines Tages, ich nahm gerade die Neulinge auf, sah ich in mir bekannte, schwarze Augen. Leon! Mein Herz machte einen Sprung. Gleichgültig untersuchte ich ihn, wohlwissend, dass ich mir ja nichts anmerken lassen durfte, einen Häftling zu kennen. Er war noch immer sehr kräftig und ging jeden Tag nach draußen, um Holz zu fällen. Irgendwie schafften wir es doch, Worte auszutauschen, ja sogar uns zu lieben. Wenn ich heute darüber nachdenke, weiß ich nicht, wie wir uns diese kurzen Augenblicke der Einsamkeit schaffen konnten, ohne entdeckt zu werden. Aber ich glaube, es hat ihm wieder Lebensmut gegeben, denn eines Tages war er fort. Ausgebrochen! Ich hoffte inständig, dass er es schaffen würde.

„Ich blicke auf einen schlammigen Platz, auf dem ausgemergelte Körper Gymnastik machen und ...“

Angewidert von diesem Bild, versuchte ich mit aller Kraft, diese Erinnerung zu unterdrücken. Ich schallte mich innerlich eine dumme Kuh. Musste ich dieses Messer mir immer wieder ins Herz stoßen und herumdrehen? Hatte ich nicht schon alles von damals aufgearbeitet bei meinem Psychotherapeuten? Oder hatte ich etwas verschwiegen?

Ich schaute nach rechts und sah eine Gruppe von Jugendlichen diskutieren. Es erinnerte mich an die Zeit, als ich in der Untergrundbewegung war.

„Schwankend versuche ich, mich wieder auf den Barhocker zu setzen. Mitleidig sieht mich der Barkeeper an und stellt mir noch ein Bier vor die Nase. Oh Gott, ich habe ihm meine ganze Lebensgeschichte erzählt, das ist ja wirklich nicht sehr damenhaft. Aber mir ist jetzt leichter, nachdem ich jemandem meine Erlebnisse erzählt habe. Ganz langsam kommt mir durch mein biervernebeltes Hirn, dass ich ihm von Leon und meinem Kind erzählt habe. Mir stellen sich die Nackenhaare auf. Wird er mich verraten? Ich schaue ihn an und er nickt leicht mit dem Kopf und sagt: ‚Sie sollten nach Hause gehen, und wenn Sie ausgeschlafen sind, kommen Sie morgen wieder her und wir frühstücken zusammen.‘“

So kam ich in die Untergrundbewegung. Ich hasste das Regime immer mehr, und ich wehrte mich und verlor viele Gleichgesinnte. Wir schmuggelten Juden und andere Verfolgte nach draußen, wir versuchten, das System zu untergraben. Wir versuchten die Bevölkerung, die nicht wusste, was dieses Regime tat, zu unterrichten. Ich glaube, wir konnten schon einiges erreichen. Dann wurde mir der Boden zu heiß. Eines Tages erfuhr ich, dass meine Eltern exekutiert wurden, da man meinem Vater eine Komplottbeteiligung am Unternehmen „Walküre“ nachweisen konnte. Ich weiß heute nicht mehr, was ich gedacht und gefühlt hatte, als mir ein Freund die Nachricht überbrachte. Natürlich wussten sie von einer Tochter. Sie suchten mich, und dadurch konnte ich nicht in Deutschland bleiben, ich würde die ganze Untergrundbewegung gefährden.

„‚He, was machen Sie denn da?‘ Durch den barschen Ton aufgerüttelt, hebt der Angesprochene den Kopf. Er antwortet mir freundlich: ‚Ich war einkaufen im Laden um die Ecke, damit Sie für die Flüchtlinge das Frühstück zubereiten können. Aber wenn es Ihnen nicht recht ist, kann ich ja wieder mit den Lebensmitteln verschwinden. Aber wie werden Sie das Ihren Schützlingen erklären?‘ Verblüfft über seine schlagfertige Antwort, schüttle ich den Kopf und strecke die Hand nach dem Einkaufskorb aus, und gemeinsam gehen wir in die Küche.“

Ja, das war Thomas. Ich lernte ihn in Bern, wohin mich meine Flucht aus Deutschland verschlagen hatte, kennen. Hier half ich in einer kleinen Herberge, Flüchtlinge so weit gesund zu pflegen, bis sie fähig waren, nach Amerika zu reisen. Wir trafen aufeinander wie Himmel und Hölle, wir waren gänzlich verschieden in unserem Wesen. Ich, lebenslustig in den Tag hinein, flatterhaft und frei trotz des Krieges. Er, bodenständig, wissend, wie seine Zukunft aussehen wird, und bedächtig. Doch in dieser verwirrenden Zeit passten wir perfekt zusammen. Wir waren glücklich, einander gefunden zu haben, und ein paar Monate später flohen wir über die Alpen nach Portugal und emigrierten nach Amerika, in der Hoffnung, dort das Gold auf der Straße zu finden.

New York! Sie war nicht meine Stadt, aber für den Anfang blieben wir dort. Thomas war ein Verkaufsgenie, und was die Finanzen anging, war er Kaiser. Ich hatte permanent das Gefühl, Geld zu haben. So wie wir es verdienten, mussten wir es ausgeben, doch es war immer etwas da. Wir konnten uns sogar ab und zu etwas leisten. Als wir erfuhren, dass der Krieg zu Ende gewesen war, überlegten wir, nach Deutschland zurückzukehren. Ich wehrte mich. Ich wollte keinem Deutschen in die Augen sehen und überlegen müssen, ob er mitgemacht hatte oder nicht. In dieser Beziehung wurde ich sehr hart, sogar meinen Onkel, der kaum älter ist als ich, verdammte ich. Damals war er für mich ein Verbrecher, da er ja mitmarschiert war.

Das Leben in New York war für uns nicht leicht. Die Entbehrungen - ich studierte Medizin und arbeitete nebenbei noch am Abend als Kellnerin, und Thomas baute sich eine Handelsfirma auf - zehrten an unseren Kräfte und unserem gemeinsamen Miteinander leben.

Plötzlich hüllte mich die Hektik von damals wieder ein, und ich kam mir, wie damals, verloren vor. Entwurzelt, aber frei, oder nicht? Ich spürte die Sehnsucht, die mich damals erfasst hatte, wenn ich mit Thomas zusammen war. Ein Schauder lief mir über den Rücken. Damals dachte ich mir, die käme davon, weil wir keine Kinder haben. Falsch gedacht, hatte ich leise aufgelacht.

Thomas konnte mir nicht das geben, was ich bei Leon gefunden hatte. Doch was war das? Ein Kribbeln, ein Schweben, ein ... ich weiß es einfach nicht. Ich brauchte nur an Leon denken und hatte das Gefühl, in einem Wirbelsturm zu sein. Ich erzählte Thomas nie von Leon und unserem Sohn. Ich weiß nicht, warum. Heute weiß ich, dass unsere Ehe mehr Chancen gehabt hätte, wenn wir einander mehr anvertraut hätten. Doch eigentlich entsprang diese Beziehung aus Liebe, ja, Liebe, nur anders als bei Leon. Eigentlich auf einer guten Basis und trotzdem ...

Ich sah auf und schaute einer Mutter mit ihrem Baby beim Schmusen und Spielen zu. Plötzlich durchströmte mich ein tiefer Schmerz und ein Glücksgefühl.

„Ich blicke in zwei weiße große Lampen über mir, und jemand drückt mir ein warmes, schreiendes Etwas auf die Brust. Zärtlich streiche ich ihr über den Kopf, und meine Augen füllen sich mit Tränen der Freude. Eine tiefe Stille breitet sich in mir aus und legt sich sanft um die Gestalt meines Mannes neben mir, mein Kind und mich, hüllt uns ein. Kein Platz für einen Fremden. Es ist das erste Mal, an dem das Gefühl ‚Familie‘ in mir hochsteigt.“

„Nein, bitte nicht, geh‘ nicht weg!“ Doch dieses einzigartige Gefühl, ein Kind geboren und in den Armen zu halten, war weg. Tränen rollten mir über die Wangen, und ich versuchte verzweifelt, ein lautes Schluchzen, das tief in meinem Inneren saß, zu vermeiden. Doch es brach mit voller Kraft aus meiner Kehle heraus. Hoppla, es war befreiend!

„Meine Tochter! Stolz stehe ich neben ihr, als sie lächelnd die Hochzeitswünsche der Gäste entgegennimmt. Ich schwebe mit ihr im siebenten Himmel. Bewundernd betrachte ich ihre hochgewachsene Gestalt und sehe in ihr hübsches Gesicht. Lieber Gott, lass sie nur glücklich sein und auch bleiben!“

Den Stolz, den ich damals hatte, der durchströmt mich heute noch, wenn ich an Cynthia denke. Was will man mehr? Als sie mein erstes Enkelkind gebar, hielt ich ihre Hand und teilte ihren Schmerz. Die Männer hielten es nicht aus. Thomas saß kettenrauchend im Krankenhausflur, neben ihm Peter, Cynthias Mann. Nach der ersten Wehe fiel er wie ein Stück Holz um.

Ich lachte auf. Männer - ha! Wenn man sie braucht, sind sie einfach nicht fähig, Gefühle zu zeigen. Ich sah vor meinem geistigen Auge Barbecuepartys, Cocktailpartys und Familienfeiern chronologisch ablaufen. Immer die gleichen Sprüche, Leute und Gespräche.

Boston! Wir hatten New York hinter uns gelassen. Wir waren beide in unseren Berufen erfolgreich, konnten uns alles leisten, wollten nie wieder auf etwas verzichten, so wie damals im Krieg und nach der Emigration. Doch etwas ging verloren. Was war es? Nicht einmal heute kann ich es in Worte fassen. Doch, ich weiß es! Thomas und ich, wir sahen einander nicht mehr. Wenn ich ihm in die Augen sah, fand ich mich nicht mehr darin so wie früher. Umgekehrt war es sicher genauso. Die Scheidung war unausweichlich. Wir waren Gott sei Dank fair zueinander und sind bis heute Freunde geblieben.

Dieses Gefühl der Freundschaft mit Thomas hatte mir ein freudiges Lächeln entlockt, das zugleich überschattet wurde, bei den Gedanken an Cynthia.

„‚Das kannst du uns nicht antun! Du kannst deine Familie nicht verlassen! Du kannst mich nicht verlassen! Sei nicht so egoistisch und denke auch einmal an Daddy. Wie muss der sich jetzt fühlen? Du hast alles, was du willst, bist erfolgreich und in der Bostoner Gesellschaft angesehen. Was fehlt dir?‘ Traurig sehe ich in die anklagenden Augen meiner Tochter und kann ihr keine Antwort geben, da ich selbst nicht weiß, was mir fehlt. Einen Augenblick später stürmt sie aus dem Zimmer und lässt mich in meinem Kummer allein. Ich bekomme keine Luft, denke, dass ich jetzt auf der Stelle sterbe. Ich tue es nicht, sondern gehe in den Vorraum, nehme meinen Koffer, sehe mich noch einmal um, schließe leise die Haustür und gehe zu dem wartenden Taxi.“

Sie hat mir nie verziehen, dass ich aus dem goldenen Käfig, in den Thomas mich setzte und ich mich auch setzen ließ, ausgebrochen war. In all den Jahren lebte ich, wie es einer erfolgreichen Ärztin und Gattin eines gutsituierten Geschäftsmannes geziemt, ruhig und brav dahin. Ich wusste, mich zu benehmen, verlor kein lautes Wort. Ich glaubte damals wirklich, dass das ich bin! Erst nach der Scheidung wusste ich, dass dies ein Irrtum war. Ich wusste auch, dass ich mein eigenes Leben leben muss, auch mit dem Wissen, vielleicht meine Tochter für immer zu verlieren.

Ich schaute in den Himmel und meine Augen folgten dem anmutigen Flug eines Vogels. Ja, genauso hatte ich nach dem Weggang von Thomas gelebt, frei von allen Zwängen. Ich ließ diese Zeit wie einen Film an mir vorbeiziehen. Ein wohliger Seufzer entrang sich meiner Kehle, ich lehnte mich zurück und gab mich ganz diesem Cinemascope hin.

Schillernd, interessant und ungebunden zog ich im Bostoner Nachtleben umher. War das herrlich! Rauf und runter, wie in der Hochschaubahn, den Wind im Haar, Schmetterlinge im Bauch und den Duft von Aftershaves in der Nase. Ich ging meiner Arbeit nach, hatte mir einen „echten“ Freundeskreis aufgebaut und viele Abenteuer unternommen. Hatte meinen Kulturstand gepflegt und meinem kleinen Kind in mir, wann immer es ging, freien Lauf gelassen. Nein, ich ließ damals nichts anbrennen, investierte nie allzu große Gefühle dabei. Das war Leben! Jawohl!

Zufrieden, diese Gefühle durchlebt zu haben, hatte ich meine Augen aufgeschlagen. Mein Blick fiel auf ein altes Ehepaar, das den Weg entlangging. Sie beugte sich über den Rollstuhl und strich ihm zärtlich über das Gesicht. Es entlockte ihm ein leises Lächeln. Plötzlich war die Hochschaubahnfahrt zu Ende, und die Erinnerung an Leon drängte sich auf.

„Ich schlage meine Augen auf und finde mich in einem fremden Bett wieder. Ich drehe mich auf die Seite und sehe den schlafenden Jim neben mir. Zärtlich streiche ich ihm über die Wange und ein tiefes Gefühl der Einsamkeit und die Sehnsucht nach Etwas überkommt mich. Plötzlich weiß ich, was es ist. LEON. Es überkommt mich so plötzlich, dass Tränen über meine Wangen rollen. Bestürzt stelle ich fest, dass ich seit meiner Scheidung nicht mehr an ihn gedacht habe. Wie eine Flüchtende vor meinen eigenen Gedanken verlasse ich die Wohnung.“

Ja, wir fanden uns wieder. Ich suchte fieberhaft nach ihm, und irgendwie schaffte ich es, ihn ausfindig zu machen. Eines Tages raffte ich all meinen Mut zusammen und fuhr nach Chicago, wo er alleine lebte, sitzend im Rollstuhl. Ich läutete an, er machte mir die Türe auf, und wir versanken in den Augen des anderen, wie damals in Paris, in seinem Atelier. Wir umarmten uns, und es war, als würde das Gleichgewicht der Welt wieder in der Mitte sein. Wir hatten uns viel zu erzählen. Leon war Witwer und hatte keine Kinder. Nach seiner erfolgreichen Flucht aus dem KZ begann für Leon ein Spießrutenlauf, bis er in Amerika ankam. Bei einem Zusammenstoß mit der NS schoss man ihm in den Rücken, und ein Kamerad schleppte ihn den restlichen Fluchtweg lang bis zum Schiff. Auf dem Schiff war ein Arzt bei den Emigranten, der ihn notdürftig versorgte. Seitdem ist Leon gelähmt. Er zog zu mir nach Boston, und ich begleitete ihn jede Woche zur Gesprächstherapie. Die Therapiestunden - was für ein Horror! Ich lebte bei seinen Erzählungen von damals jedes Mal mit.

Ich bekam eine Gänsehaut über meinen ganzen Körper, und im Nacken spürte ich ein ungutes Gefühl. Bei der Erinnerung an die Therapiestunden wurde mir schlecht. Trotzdem ...

... waren wir glücklich, hatten wir uns doch nach all der Zeit doch noch gefunden. Die Suche nach unserem Sohn war schwierig. Die Verzweiflung und Niedergeschlagenheit, die ich damals empfand, war einfach schrecklich. Dann die Erlösung! Ich stand ihm gegenüber. Schaute in zwei lustig dreinblickende Augen, und Sonnenstrahlen umgaben sein schwarzes Haupt wie einen Heiligenschein. Wie damals bei seinem Vater in Paris, im Atelier. Er freute sich, uns endlich kennenzulernen, seine Adoptiveltern hatten ihm an seinem achtzehnten Geburtstag erzählt, dass sie nicht seine leiblichen Eltern sind. Sie hatten ihn sogar unterstützt, als er Jahre später den Wunsch aussprach, uns zu suchen. Er war Bankmann und zog zu uns nach Boston. Er sagte damals, er wolle nie wieder getrennt von uns sein. Er wollte alles von uns wissen, am besten alles an einem Abend. Ich kann selbst heute das Gefühl nicht beschreiben, als ich meinen Sohn in die Arme schließen konnte. Als ich Leon wiederfand, glaubte ich, die Welt wäre perfekt. Doch Daniel machte diesen Kreis des Gleichgewichtes in der Welt erst so richtig perfekt. Trotzdem litt ich unter dem eisigen Schweigen zwischen mir und meiner Tochter. Aber jeder Versuch zur Versöhnung meinerseits schlug fehl. Ich wusste nicht mal, was meine Enkelkinder machten.

Diese Leere, die Cynthia in mir hinterlassen hatte, traf mich mit einer solchen Wucht, dass ich am liebsten geschrien hätte. Heute weiß ich, dass ich sie nicht richtig kenne. Jahrelang war ich diesem Gefühl, das ich bei ihrer Geburt empfand, hinterhergerannt, glaubte, das wäre das Band zwischen Mutter und Tochter gewesen. Das ist aber nur der Anfang von diesem Band. Man muss es weiter spinnen, jeden Tag, damit es hält, bis in die Ewigkeit. Plötzlich spürte ich die Erlösung, die ich empfand, als Leon in meinen Armen starb, wieder.

Er litt so furchtbare Schmerzen, dass er nicht mehr leben wollte. Er starb so friedlich, dass ich mich fragte, woher er diesen Frieden nahm, nach alldem, was ihm widerfahren war. Es war eine schöne Beerdigung. Wir nahmen alle Abschied von ihm und gingen dann in ein Restaurant essen und tanzen. Genauso wollte er es. „Nur nicht weinen, mein Engel“, sagte er oft zu mir und strich mir über die Wange, „wir haben viel zu viele Tränen in unserer Jugend vergossen“. Trotz der Erleichterung über seinen Tod, erfüllen mich Trauer und eine Leere, die Leon hinterlassen hat.

Ich hielt inne, nahm den Lauf der Dinge, die um mich herum geschehen waren, ganz in mich auf. Ja, ich hatte meinen Körper über sie gestülpt. Ich füllte mich mit allen Gefühlen der Leute um mich herum. Positive und negative Schwingungen brachten mich kurz zum Vibrieren, ehe sich eine seltsame Ruhe, wie ein Gleichklang mit der Natur, über mich, wie ein beschützendes Tuch, leise und sanft, gelegt hatte. Mein Körper hatte dieses Gleichgewicht, wie ein trockener Schwamm, in sich aufgenommen und schrie nach mehr. Aber wo war mehr zu finden? Die Antwort ist so nah gewesen, nur in mir selbst! Von wem sollte, ja, dürfte ich es denn verlangen? Von niemandem, außer von mir. Ich bin mein Gleichgewicht, mein positives und negatives Ich ist in mir, und deshalb kann nur ich es in die richtigen Bahnen lenken.

Mit dieser Erkenntnis, die mich irgendwie befreit hatte, stand ich auf und ging leichten Schrittes auf die Wiese zu. Ich zog meine Schuhe und Socken aus und ging, fühlend der neuen Bodengegebenheit, Richtung nach Hause. Ich blieb stehen und sah, wie so oft bei Leon, der jungen Malerin bei der Staffelei über die Schultern. Überrascht weiteten sich meine Augen. Auf dem Blatt Papier sah mir mein Spiegelbild entgegen. Ein entspanntes, glückliches und zufriedenes Lächeln umspielte den Mund meines Abbildes, und ein Sonnenstrahlenkranz umgab mein Haupt wie einen Heiligenschein.

Verlegen und mit hochrotem Gesicht drehte sich die begabte Malerin zu mir um und sagte: „Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, aber ich war so fasziniert von Ihrem Wechselbad der Gefühle auf Ihrem Gesicht, dass ich einfach anfing zu skizzieren.“ Vorsichtig griff ich nach den Blättern, die um sie herumlagen. Auf jedem erblickte ich mich, und ich konnte zu jedem Bild sagen, welche Erinnerung mich gefangengenommen hatte, so echt hatte sie mich getroffen. So etwas hatte ich zuletzt bei Leon gesehen. Ich war fasziniert und zugleich erschrocken, wie stark mein Gesicht gesprochen hatte.

„Natürlich bin ich Ihnen nicht böse“, sagte ich, während ich langsam die Zeichnungen sinken ließ und in das verstörte Gesicht der Malerin blickte. Spontan fragte ich sie, ob sie mit mir eine Kleinigkeit essen möchte, da ich erst jetzt bemerkte, dass ich seit zehn Uhr vormittags im Park saß und es schon Abend geworden war. Sie erzählte mir, dass sie Amelie heiße und Vollwaise sei. Dass sie alleine lebe und gerade mit dem Kunststudium fertig geworden sei. Ein bekannter Galerist war auf sie aufmerksam geworden und hatte sie für seine nächste Ausstellung beworben. Das Thema: „Eine Studie“. Sie hatte mir gesagt, dass sie leider bis heute keinen Anfang habe und die Ausstellung in drei Monaten sei. Spontan sagte ich ihr, wenn sie wolle, könne sie meine Porträts dafür verwenden. Begeistert und voll Tatendrang klatschte sie in die Hände und riss mich dabei in den Strudel ihrer Hoffnung mit.

Wir hatten jeden Tag gearbeitet. Sie brachte die Skizzen in Farbe und groß auf Leinwand, und ich schrieb zu jedem Bild die Erinnerung auf. Wir hatten unseren 60. Tag unserer Zusammenarbeit, und ich war erstaunt, wie mich diese Arbeit befreite. So befreit von meiner Last war ich nach meiner Therapie überhaupt nicht. Jeden zweiten Tag kam der Galerist in unser Atelier. Er war total begeistert von unserer Arbeit. Amalie und ich, wir ergänzten uns. Ich füllte die Lücke, die ihre Mutter hinterlassen hatte, und sie die von meiner Cynthia. Lächelnd sah ich sie an, wie sie voller Enthusiasmus vor der Staffelei stand, das Sonnenlicht lustige Farbeffekte in ihrem kastanienbraunen Haar zeichnete, und dasselbe Gefühl von Glück erfüllte mich, wie damals mit Leon in Paris. Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, Amalie nicht mehr zu sehen. Einem lieben Menschen geholfen zu haben und die gleichen Gefühle zurückzubekommen, dass ist alle schwere Erinnerung wert. Es fiel mir schwer, die Erinnerung zu dem vor mir liegendem Bild aufzuschreiben. Wie schreibt man für die übrige Welt, ohne dass es herzlos klingt, dass man erleichtert ist über den Tod eines geliebten Menschen? Keiner hat sein Leiden und seine Schmerzen miterlebt. Ich setzte die Feder auf das Papier, und wie von einem Wind beflügelt, schwang meine Hand über das Papier. Nur das Kratzen meiner Füllfeder und das Schmatzen, wenn Amalie die Farben mischte, erfüllte das Atelier, und draußen ging die Sonne unter.

Die Arbeit machte uns glücklich und ausgelassen. In unserem sonnendurchfluteten Atelier hallte jeden Tag heiteres Lachen, und dennoch gingen wir behutsam mit unserer neugewonnen Beziehung um, wollten jeden Moment genießen und keine Zeit verschwenden. Wir wussten beide, wie kostbar diese für uns war.

Ich setzte den letzten Punkt unter die letzte meiner Erinnerungen, und Amalie den letzten Farbklecks. Arm in Arm setzten wir uns auf die Fensterbank und betrachteten stolz unser gemeinsames Werk. Ein Glücksgefühl stieg langsam in mir hoch. Ich schaute Amalie an, und in ihren Augen sah ich dieselben Gefühle. Langsam standen wir auf und schlossen leise die Tür hinter uns. Gemeinsam schlenderten wir nach Hause und legten uns nieder, mit dem Wissen, etwas Gutes geschaffen zu haben, und leise schlich sich die Aufregung über die am nächsten Tag bevorstehende Ausstellung in uns ein.

Die Vernissage ist ein voller Erfolg. Wir haben zwar eine kleine Panne beim Aufhängen der Bilder und Texte gehabt, aber zum Schluss sind alle zufrieden gewesen. Strahlend, wie zwei Göttinnen, stehen wir vor den Fotografen und plaudern mit potenziellen Kunden.

Plötzlich sehe ich Cynthia. Sie steht aufrecht im Raum und blickt von einem Bild zum anderen. Instinktiv halte ich die Luft an. Was denkt sie über ihre Mutter? Sie dreht sich um, und mit der Liebe einer Tochter in den Augen geht sie langsam auf mich zu und umarmt mich vorsichtig, als wäre ich aus Glas. „Mummy“ ist das Einzige, was sie sagt. Mir ist dieses Wort ausreichend genug, mehr als eine Rede. Hand in Hand stehen wir zu dritt, Amalie, Cynthia und ich, im Raum, und nichts kann uns mehr erschüttern. Mein Band mit Cynthia fängt an, sich zu knüpfen, so wie damals jenes mit Amalie. Durch diese Vernissage der Erinnerungen finde ich meine Tochter wieder und habe eine zweite dazu.

Alle Bilder sind verkauft worden. Wehmut überkommt mich. Ich bin nicht mehr präsent. Ich schüttle diese traurigen Gedanken ab und drehe mich um. Amalie steht mit dem Bild, das ich als erstes damals im Park sah, in der Hand vor mir und sagt leise: „Ich konnte es nicht verkaufen. Ich will es dir schenken. Du hast in diesem Moment deinen inneren Frieden gefunden. Hänge es in deiner Wohnung auf und erinnere dich jeden Tag daran.“ Mit Tränen in den Augen frage ich sie: „Wieso habe ich einen Sonnenstrahlenkranz um meinen Kopf?“

„Ich habe dich damals so gesehen. Es war, als hätte dir jemand einen Kranz aufgesetzt.“

Mit dem Wissen, dass Leon immer bei mir sein würde und wollte, dass ich meinen inneren Frieden finde, gehe ich mit Amalie und Cynthia zu meiner Wohnung, in der ich keine Angst mehr vor Erinnerungen habe.