Jahr: 2006
Autor/in: Gynther Riebl
Titel: Eine Geschichte am Rande
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Sammler sind doch eigenartige Menschen. Sie sammeln Münzen, Postkarten, Flaschenverschlüsse, Reiseandenken, Teddybären, Teekannen, Ölgemälde, Schreibmaschinen, Biedermeiermöbel, Oldtimer, Flugzeuge - usw.

Wozu? Uhren oder Briefmarken können zur Wertanlage werden, aber, zum Beispiel: Kaugummi-Verpackungen - wozu?

Ich kenne einen, der sich auf ein besonders ausgefallenes Randgebiet spezialisiert hat.

Begonnen hatte es mit seiner Leselust und der Gewohnheit, Notizen in Bücher zu schreiben. Er wollte damals eine Bemerkung an den Rand einer Buchseite schreiben, hatte aber zu wenig Platz dafür. Seine Schrift wurde immer kleiner, zu einem Gefietzel, das er selbst kaum noch lesen konnte, aber der Platz reichte nicht. In seiner Wut, nicht alles notieren zu können, packte er das Buch, schleuderte es in eine Ecke und setzte sich mit abgewandtem Rücken in die andere Ecke, um ein tiefsinniges Gedankenspiel über Buchformate zu beginnen. Als er den Entschluss gefasst hatte, sich persönlich nur mehr für die Herstellung großformatiger Druckwerke einzusetzen, war er einigermaßen beruhigt, erhob sich, und holte, versöhnt, das misshandelte Objekt aus der anderen Ecke.

Da stellte er überrascht fest, dass die Seite durch seine rohe Behandlung eingerissen und umgeknickt war! Das eingerissene, fast abgerissene Stück stand schräg aus dem Buchschnitt heraus, und mit den Rissstellen war zusätzlicher Seitenrand entstanden! Erfreut nahm er seinen Stift zur Hand, und durch das Anbringen einiger weiterer quer verlaufender Risse erhielt er so viele neue Ränder, dass sich alle Notizen mühelos unterbringen ließen, unbekümmert darum, dass er dabei bereits in den bedruckten Bereich hineinschrieb.

Entzückt über diese Entdeckung riss er das Blatt ganz heraus und legte es als Muster für eventuelle weitere Probleme dieser Art in das holzgeschnitzte Kästchen, in dem er einige mathematische Bücher aufbewahrte, unter anderem ein Exemplar der „Arithmetica“ des Diophantus.

Das war der Grundstein, der, noch ohne Absicht einer Sammelleidenschaft, einige Zeit allein in dem Kästchen verblieb. Der Auslöser der Leidenschaft war wohl eher ein altes Pergament, das der Sammler auf die neu erkannte Art behandelt hatte. Die durch das Reißen entstandenen Ränder waren bei diesem Material auf besondere Weise gezackt und ausgefasert, und die vergilbte Färbung des Papiers erweckte eine wärmende, kunstsinnige Freude in dem Sammler. Er öffnete das Kästchen um das Pergament hineinzulegen und verglich dabei genau die Randzonen der beiden Papiere.

Die unterschiedlichen Ausprägungen erinnerten ihn an Küstenformen in Südamerika, die er vor kurzem auf einer Satellitenaufnahme gesehen hatte. Er holte den Atlas mit dieser Aufnahme, schnitt sie heraus und legte sie zu den Papieren. Dabei schlich sich heimlich der Wunsch in sein Herz, mit anderen Papiersorten alle Küstenformen aus diesem Atlas nachbilden zu können. Zackig, faserig, fransig, glatt, gewellt, muschelig, bröckelig, borstig, wie sie alle waren.

Er entdeckte weiter, dass sich solche Ränder ziemlich mühelos vervielfältigen ließen, solange noch genug Blattsubstanz vorhanden war, was sich für die Erweiterung seiner Sammlung als großer Vorteil erwies.

Bald waren es nicht allein die Randformen des Papiers, die ihn faszinierten. Er begann, beim Vergleichen der Ränder philosophische Überlegungen anzustellen. Er untersuchte, ob auch andere Körper einen verwertbaren Rand haben. Buchdeckel zum Beispiel, Baumblätter oder Hemdkragen waren kein Problem. Aber Gegenstände, die nicht so papierflach sind?

Manche davon haben eindeutig einen Rand, etwa eine Kaffeetasse oder ein Lampenschirm. Schwierigkeiten bereitete ihm der Tisch. Er wusste erst nicht, ob der Tisch einen Rand hat, oder ob man diese Eigenschaft nur der Tischplatte zugestehen darf. Erst als er auf den Tisch hinaufstieg und sich umsah, fand er die Lösung. Er betrachtete sein Podest und sagte laut: „Das da unten ist ein Tisch! Daneben sehe ich den Fußboden. Also ist die Grenze, an der ich das Ende des Tischobjekts wahrnehme, und jenseits der sich der Fußboden erstreckt, der sichtbare Rand des Objekts >Tisch<.“

Mit dieser Erklärung konnte er weit schwierigere Probleme lösen. Lange hatte er zum Beispiel gedacht, ein Apfel habe keinen richtigen Rand, wie überhaupt alle kugeligen Objekte. Aber, gelehrt geworden durch den Tisch, hielt er den Apfel waagrecht vor sich in einiger Entfernung von seinem Kopf in Richtung auf das helle Fenster, betrachtete den Apfel lange, und kam zu dem Schluss: „Ich sehe ein dunkles Objekt. Der Rand dieses Objekts zeigt eine runde Gestalt. Jenseits dieses Randes sehe ich das helle Fenster.“ Eine klare Erkenntnis: Die Silhouette des Körpers ist sein sichtbarer Rand.

Der Mann erkannte somit, dass jeder Körper einen Rand hat, und, wie er schon am Beispiel des Papiers bemerkt hatte, die Gestaltung des Randes viel über den Körper aussagt. Das Betrachten der Ränder wurde eine Obsession, und er begann bald, alle Arten ungewöhnlicher Ränder zu sammeln. Nicht nur den Rand der Tischplatte von oben, auch den Rand des seitlich gesehenen Tisches. Den Rand des dunklen Apfels vor dem hellen Fenster, den Rand der Wand gegen das Fenster hin, den Rand des Zimmerbodens zur Wand hin. Alles packte er in sein Kästchen, das er bald gegen eine größere Truhe ersetzen musste.

Die Sache mit dem Apfel eröffnete ihm schließlich ganz neue Perspektiven: Die Beleuchtung war wichtig! Er hatte schon den Rand eines ganzen Apfelbaumes in seiner Truhe, mit dem er aber nicht recht zufrieden war, der Apfel schien ihm besser. Der scharfe hell-dunkel Kontrast fehlte! Er musste also auch Ränder bei verschiedenen Lichtverhältnissen in seine Sammlung aufnehmen.

Auch die Dimensionen der Ränder nahmen an Umfang zu. Schon ein Stück vom Rand seines Hauses wollte er nicht so klein wählen, dass es noch in die Truhe passen konnte. Vergleicht man Ränder von Häusern, muss man eben größere Stücke haben, um markante Unterschiede feststellen zu können. Was ist zum Beispiel der Rand des schiefen Turmes von Pisa, verglichen mit dem Rand des Tadsch Mahal in Indien? Was ist schon der Rand der chinesischen Mauer verglichen mit dem Rand des Kölner Doms? Hat man aber von jedem Gebäude nur ein Stück des Sockels, so merkt man kaum einen Unterschied.

Als die große Truhe nicht mehr ausreichte, die Ränder aufzunehmen, verfiel der Sammler auf einen genialen Trick. Der war ihm eines Abends beim schmökern in seinen Sammelstücken gekommen, da hatte er vor der Truhe gesessen und alles durch seine randlose Brille betrachtet. Der Rand der Brille war nämlich bereits der Sammlung einverleibt. Als er die Truhe schließen hatte wollen, hatte er die vorher mustergültige Ordnung nicht wieder herstellen können, alles war durcheinander gequollen, und vieles über den Rand der Truhe hinausgehangen, der Deckel hatte sich nicht mehr schließen lassen.

„Meine Brille“, hatte er gedacht, „hat keinen Rand mehr, es ist eine randlose Brille. Warum gebe ich nicht den Rand der Truhe in die Sammlung, dann habe ich eine randlose Truhe, aus der nichts mehr herausquellen kann?“

Gesagt, getan, und wieder war er in seiner Sammeltechnik einen Meilenstein weitergekommen.

Ränder von Häusern waren kein Problem mehr. Der nächste Schritt waren der Beckenrand des städtischen Freibades und die Straßenränder der wichtigsten Verkehrsverbindungen. Weiter kamen der heimatliche Stadtrand und der Rand des Horizontes dazu. Er sammelte auch Küstenränder nicht mehr auf Fotos, sondern im Original. Er sammelte Wüstenränder, und ganze Randgebiete und Randzonen. Das Glanzstück aber war zweifellos der gleißende Rand der Sonnenscheibe.

Das Verzeichnis seiner Sammlerstücke war sein besonderer Stolz. Er verwendete dafür natürlich nur Blattränder und katalogisierte und bezeichnete alles ausschließlich mit Randbemerkungen. So war das Verzeichnis mit ein Teil der Sammlung geworden und enthielt sozusagen rückbezüglich sich selbst.

Dem Mann ging es aber schließlich wie so vielen Gelehrten, die sich jahrzehntelang einer wissenschaftlichen Arbeit widmen und darüber den Blick für den einfachen Alltag verlieren:

Er wurde schrullig.

Bei großen Gesellschaften sah man ihn nur mehr am Rande stehen und gierig die Ränder von Hüten, Gläsern, Tellern und so weiter betrachten. Er war ständig auf der Suche nach neuen, immer originelleren Rändern.

Bald aber sah man den Mann nicht mehr in der Öffentlichkeit, und auch sein Haus wirkte von außen leblos und unbewohnt. Ich glaube, es hängt damit zusammen, dass er begann, abstrakte Ränder zu sammeln. Zum Beispiel den Rand des Nervenzusammenbruches und den Rand des Wahnsinns. Vielleicht war ihm etwas geschehen, als er am Rande einer Katastrophe auf Suche ging?

Wahrscheinlicher ist aber, dass er der Bemerkung eines übel wollenden Zeitgenossen zum Opfer gefallen ist. Er wurde nämlich nicht mehr gesehen, seit auf einem Kongress diverser schon sehr schrulliger Sammler jemand zu ihm gesagt hatte: „Selbst unter uns doch etwas eigenwilligen Sammlern sind sie zweifellos eine Randerscheinung.“

Jetzt liegt er wohl selbst in seiner Truhe, am Rand zwischen Tag und Traum.